Fahrbericht: McLaren 720S Spider
Vor rund 125.000 Jahren zogen Vorfahren der heutigen Menschen durch ein Gebiet mitten in Europa. Viele Jahrtausende später nannte man die Gegend wahlweise ‚das Gesteins‘, ‚das Hundsklipp‘ oder ‚das Klipp‘. In Erinnerung an den berühmten Kirchenliedkomponisten Joachim Neander, der in dieser Gegend gern wandern ging, benannte man das Areal am Ende des 19. Jahrhunderts in ‚Neanderthal‘ um. Durch die Rechtschreibreform 1901 entfiel das ‚h‘. Bereits im August 1856 entdeckten Steinbrucharbeiter erste Knochen der oben angesprochenen Frühmenschen. Nach ihrer wissenschaftlichen Einordnung erhielt diese Gruppierung den lateinischen Namen ‚Homo neanderthalensis‘, im Volksmund schlicht Neandert(h)aler (mit und ohne h) getauft.
Mit 720 PS ab ins Neandertal
125.000 Jahre nach unseren Vorfahren saß ich im April 2021 in meinem Büro und erhielt das Angebot, einen McLaren 720S Spider für eine Testfahrt zu erhalten. In den zurückliegenden Jahren habe ich bereits einiges gemeinsam mit McLaren erleben dürfen. Fahrten durch das Münchener Umland im 12C. Überführungsfahrten von und zur Fabrik im englischen Woking westlich von London. Oder auch eine schöne Tour mit drei Fahrzeugen quer durch die malerische Eifel bis in die Ardennen. Diesmal stand zwar das Auto bereit, eine festgelegte Route gab es aber nicht. Kein Grund Trübsal zu blasen, denn das besagte Neandertal liegt tatsächlich nur wenige Minuten von meinem Home Office entfernt. Und blauer Lack vor frühlingsgrünen Pflanzen wirkt immer stimmungsvoll.
Alltagstauglicher Supersportwagen
Trotz typischem Aprilwetters gab es glücklicherweise genügend trockene Phasen, um mit dem Auto warm zu werden. Sitzposition, Haptik und Optik sind noch in den Tiefen des Gedächtnisses abgelegt. Immerhin durfte ich einen Coupé-Bruder zu diesem Spider vor zweieinhalb Jahren nach Großbritannien bringen. Als schönen Kontrast zum Lack in ‚Burton Blue‘ trägt der offene Zweisitzer schwarzes Leder mit Akzenten in McLaren Orange. Meine Hände streichen während der Fahrt über schwarzes Alcantara am Lenkrad und die dahinter angeordneten Aluminium-Schaltwippen. Für Außenstehende mag es erstaunlich sein, aber dieser Wagen ist voll alltagstauglich. Höhere Bordsteinkanten oder Temposchwellen überfährt man dank eines Nose-Lift-Systems relativ problemlos. Die üblichen Kleineinkäufe passen vorne in den Kofferraum. Sollte es doch einmal ein wenig mehr geworden sein, kann man bei geschlossenem Verdeck auch das Verdeckfach hinter den Sitzen nutzen.
Bei Bedarf geht es in 7,9 Sekunden auf 200 km/h
Im normalen Alltagsbetrieb belässt man alle Fahrsysteme auf Automatik. So schaltet das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe bereits bei knapp über 50 km/h in den siebten Gang und hält damit Geräusche und Verbrauch erfreulich niedrig. Generell öffnen die Klappen des hier verbauten optionalen Sportauspuffs erst in höheren Drehzahlbereichen. Verärgerte Reaktionen von Nachbarn und Passanten halten sich daher in Grenzen. Natürlich ist es immer wieder beeindruckend, wenn die 720 PS aus dem V8-Biturbomotor zupacken. Um es mal in Worte zu fassen: Auf trockenem Asphalt geht es in 2,9 Sekunden auf 100 und in 7,9 Sekunden auf 200 km/h. Manch ein Mitfahrer vergleicht dieses Erlebnis zurecht mit der Fahrt in einer Achterbahn. Verglichen mit dem Coupé machen sich die rund 50 Kilogramm Mehrgewicht für das klappbare, einteilige Hardtop auf der Straße kaum bemerkbar. Ebenso schaffen es die Briten, störende Quietsch- und Knarzgeräusche aus dem Cockpit fernzuhalten. Hier zahlt sich das hochfeste und torsionssteife Carbon-Monocoque aus.
Extras im Wert eines Mittelklasseautos
Optisch fällt es nur auf den zweiten Blick auf, dass man hier nicht vor einem vollwertigen Coupé, sondern vor einem Spider steht. Beim Testwagen findet sich das optionale Glasdach, dessen transparenter Teil auf Knopfdruck abgedunkelt werden kann. So kommt selbst bei schlechtem Wetter auf Wunsch viel Licht ins Interieur. Wenn wir schon bei diesem aufpreispflichtigen Extra sind, schauen wir doch direkt einmal in die weitere Ausstattungsliste. In der Grundversion kostet der 720S Spider aktuell 285.500 € inklusive deutscher Mehrwertsteuer. Hier stecken das Performance Paket (Sichtcarbon- und Palladium-Akzente außen), der bereits genannte Sportauspuff, das elektrochromatische Glasdach, Carbon-Elemente im Interieur, das Alcantara-Lenkrad, ein Audiosystem von Bowers & Wilkins mit 12 Lautsprechern sowie Parksensoren inklusive 360-Grad-Kamerasystem zusätzlich drin. Zuzüglich weiterer kleiner Extras summiert sich der Preis auf 345.780 €.
Erfreute Blicke aus allen Generationen
Bevor nun Diskussionen losgehen, dass man sich für 60.000 € locker einen gut ausgestatteten Familienwagen in die Einfahrt stellen kann: Ja, den hat ein typischer McLaren-Kunde jedoch vermutlich eh bereits. Käufern eines Mercedes-Benz 300 SL rechnet man ja auch nicht vor, was dafür noch alles gekauft werden könnte. Man freut sich einfach mit dem jeweiligen Besitzer und erfreut sich am Anblick dieser automobilen Präziosen. Dieses Strahlen im Blick erscheint beim McLaren besonders bei Kindern – egal welchen Geschlechts – sehr schnell. Im Gegensatz zu manch italienischer Marke sammelt der Brite jedoch auch Pluspunkte in der älteren Generation – vielleicht weil man ihn noch nicht mit zuvielen C-Promis in Verbindung bringt. Während der gesamten Zeit, in der mir der 720S Spider zur Verfügung stand, gab es nur eine Negativmeinung. Diese wäre jedoch vermutlich gegenüber jedem anderen Auto auch gefallen. Sie stammte von einem Radfahrer, der bei den Fotoaufnahmen um das Fahrzeug herumlenken musste.
Heckscheibe dient als Windschott
Eine Feinheit des 720S Spider habe ich bisher noch gar nicht erwähnt. Sollte das Wetter einmal nicht gut genug sein, um das Verdeck zu öffnen, kann man trotzdem reichlich Frischluft ins Cockpit lassen. Nein, nicht durch die Seitenscheiben. Die senkrecht stehende Heckscheibe kann auf Knopfdruck einzeln versenkt werden. Hierdurch kann man zudem dem vier Liter großen V8 deutlich direkter lauschen als im Coupé. Jeder Gasstoß, jeder Gangwechsel und vor allem Tunnelfahrten geraten damit zum Hochgenuss. Im Gegenzug lässt sie sich bei geöffnetem Dach auch als Windschott herauffahren. So wehen zwar die oberen Kopfhaare im Wind, am Nacken kommt jedoch kaum störender Zug an. Lässt man alle Scheiben herunter, herrscht natürlich Durchzug. Als Cabrio-Liebhaber vielleicht genau das, was man möchte.
Wären die Neanderthaler McLaren-Kunden?
Kommen wir zurück auf die wunderschöne Umgebung. Hätten die Neanderthaler einen McLaren gekauft? Vermutlich nicht, da es damals das heute gängige Geldsystem überhaupt noch nicht gegeben hat. Die schiere Kraft des britischen Sportwagens in Verbindung mit Sound und Aussehen hätte unsere Vorfahren wohl in die Flucht getrieben. Nie hätten sie auch nur erahnt, wohin die Rasse Homo sapiens einst kommen würde. Sie blickt auf digitale Displays und spaltet sich aktuell in die Lager der Autoliebhaber und Autohasser auf. Für erstere ist der McLaren ein Traum, den sich einige sogar erfüllen können. Für letztere ist er ein Ärgernis wie jedes andere Gefährt mit vier Rädern. Da ich der erstgenannten Gruppe angehöre, ging die letzte Fahrt vor der Rückgabe zu einem Sportwagentreffen der besonderen Art. Ausnahmsweise stellte der McLaren hier tatsächlich das untere Ende der Nahrungskette dar – es bleiben also immer noch Träume übrig.
Bilder: Niklas Emmerich, Katrin Kierse, Matthias Kierse