Fahrbericht: McLaren 720S

Die Anfrage kam unerwartet und kurzfristig, aber wer hätte schon nein sagen wollen? Sie las sich ungefähr wie folgt: „Wäre es möglich, einen McLaren 720S zum Termin X ins McLaren-Werk im britischen Woking zu überführen? Fahrbericht darf natürlich geschrieben werden.“ Nach einem kurzen Blick in den Kalender und einem zweiten auf den Wetterbericht stand der Entschluss fest – na gut, eigentlich schon vorher. Ein kurzes Telefonat später ging es zum Abholort des McLaren. Kurzer Smalltalk, Sitz und Spiegel eingestellt und ab geht’s ins Abenteuer. Direkt zum Beginn gab es etwas, was Betrachter eines 720 PS starken Supersportwagens gerne ausblenden: Klassischen abendlichen Berufsverkehr. In den ersten zwei von insgesamt sieben Gängen rollt der McLaren durch die Rush Hour und fällt dabei allenfalls durch seine Lackierung in ‚Aurora Blue‘ auf. Innen genießt man die Ledersitze, das hervorragende, optionale Audiosystem von Bowers & Wilkins mit insgesamt 12 Lautsprechern und das Wissen um reichlich Leistungsreserven für den Fall der Fälle.

Beschleunigung und Tempo glauben wir ungetestet

Nachdem sich der Verkehr endlich aufgelöst hatte ging es mit dem 720S auf die tatsächlich relativ leere Autobahn. Hier fielen zwei Punkte positiv auf. Zum einen kann das LED-Licht der Scheinwerfer absolut überzeugen, indem es die Fahrbahn hervorragend ausleuchtet und, wie sich später auf der Landstraße herausstellen sollte, gemeinsam mit dem Fernlicht die Nacht zum Tage macht. Zum anderen überzeugt der britische Sportwagen mit einer Leistungsabgabe, die ihres Gleichen sucht. Bevor das Gefühl eines Turbolochs aufkommen kann, schaltet das Doppelkupplungsgetriebe ein paar Fahrstufen herunter und die Fuhre kommt nachhaltig in Schwung. Aufgrund der kühlen Asphalttemperaturen und fehlenden Mess-Equipments glauben wir die von McLaren im Datenblatt angegebenen Werte für den Sprint von null auf 100 und 200 km/h ungetestet. Dort stehen 2,9 und 7,8 Sekunden schwarz auf weiß. Aus Vernunftgründen blieben wir auch den beiden folgenden Werten fern: Laut Hersteller dauert die Beschleunigung bis auf Tempo 300 nur 21,4 Sekunden, während die Höchstgeschwindigkeit mit 341 km/h angegeben ist. Doch was viel mehr Fahrfreude bereitet, ist der Bereich zwischen 100 und 200 auf leeren, unbegrenzten Autobahnabschnitten. Hier kommen die 770 Newtonmeter Drehmoment voll zur Geltung, katapultieren den Zweisitzer nach vorn und zementieren dem Fahrer ein breites Grinsen ins Gesicht.

Erstaunlicherweise fällt in den kommenden Tagen auf, dass der McLaren genau das eben nicht tut. Klar, besonders bei kleinen Jungs sieht man glänzende Augen und nicht wenige ziehen an den Händen ihrer Mütter, um näher heranzukommen, wenn der Brite am Straßenrand oder auf einem Parkplatz steht. Doch bei Passanten in Dörfern und Städten bleiben oftmals Reaktionen aus. Ist der vier Liter große V8-Biturbomotor am Ende akustisch zu zurückhaltend, um sich von weitem anzukündigen? Im Vergleich zu manchem Mitbewerber ist er tatsächlich im Stadtverkehr eher ruhig, was man innen wie außen jedoch wohlwollend zur Kenntnis nimmt. Erst bei höheren Drehzahlen kommt der Achtzylinder voll zur Geltung, wobei ihm dabei die beiden Turbolader spür- und hörbar den Marsch blasen – oder besser pfeifen. Dafür sollte man sich dann jedoch tunlichst nicht in der Innenstadt aufhalten, wo derartiges Verhalten einfach fehl am Platze ist.

Ausgefeilte Aerodynamik

Diejenigen, die sich den McLaren 720S näher anschauten, waren besonders angetan von der ausgefeilten Aerodynamik. Hier hat der britische Hersteller sichtbar viel Arbeit investiert, um den Fahrtwind gezielt dorthin zu leiten, wo man ihn haben möchte. Neben abtriebssteigernden Bauteilen wie dem Frontspoiler und dem ausfahrbaren Heckflügel sind vor allem die Kühlkanäle beachtenswert. Diesen unterwerfen sich sogar die Scheinwerfer, deren Gehäuse sich beim zweiten Blick als Lufteinlass entpuppt. Am vorderen Bereich der Schmetterlingstüren beginnt oben auf der Gürtellinie eine Vertiefung, die diagonal nach unten zu den Kühlern führt. In der Seitenansicht des Wagens ist davon überhaupt nichts zu sehen. Weitere Zu- und Abluftschlitze ziehen sich rund um die hinteren Seitenscheiben bis zum Heckflügel, vor dem auch der Einlass für den Ansaugtrakt des V8 zu finden ist. Unterhalb der schmalen LED-Rückleuchten sitzt ein weiteres Luftauslassgitter, in dem auch die beiden Auspuffendrohre ins Freie münden. Auf diese Weise konnte dem Diffusor weiter unten mehr Platz gewidmet werden, wodurch der Anpressdruck nochmals ansteigt.

Innen bekommt man von der Aerodynamik im ersten Moment nicht viel mit. Allerdings fallen irgendwann die Kurvengeschwindigkeiten ins Auge, die mit dem 720S mühelos machbar sind und normalen Mittelklassefahrzeugen vermutlich nicht gelingen würden. Da die Landstraßen im Oktober nicht mehr allzu warme Asphalttemperaturen aufweisen, sind natürlich auch die Reifen nicht im optimalen Betriebsfenster unterwegs. Entsprechend gut präsentiert sich das straff gefederte Fahrwerk in Verbindung mit dem aerodynamisch erzeugten Anpressdruck. Auf den vielen von uns gefahrenen Kilometern konnten aber auch die gut ausgeformten, elektrisch verstellbaren Sportsitze überzeugen. Ebenso die Möglichkeiten, Gepäck mitzunehmen. Neben dem großen Kofferraum vorn bietet sich weiterer Platz hinter den Sitzen und ein kleines Fach unter der mittleren Armlehne, wo auch USB- und AUX-In-Anschlüsse zu finden sind.

Klappbares Display ist eine gute Idee

Ein auf den ersten Blick als Gag abgestempeltes Detail erweist sich speziell bei Nachtfahrten als grandiose Idee. Hinter dem Lenkrad befindet sich ein großes Digitaldisplay, auf dem neben dem Drehzahlmesser auch das Tempo und diverse weitere Informationen bis hin zu Navigationshinweisen angezeigt werden. Auf Knopfdruck faltet es sich jedoch ein, fährt ein Stück weit ins Armaturenbrett und offenbart auf seiner Oberseite eine schmale Informationszeile, die neben der Drehzahl und dem Tempo nur noch den eingelegten Gang zeigt. Diese Reduzierung ist eigentlich für den Einsatz auf der Rennstrecke gedacht, bei dem sich der Fahrer vor allem auf die Kurvenscheitelpunkte konzentrieren muss, hilft aber auch bei Nachtfahrten deutlich dabei, den Konzentrationsfluss auf die Straße zu lenken. Und das ist bei 720 PS sicherlich nicht die schlechteste Entscheidung.

Herbstliche Deko dient als Hintergrundmotiv

Auf der Suche nach interessanten Fotomotiven ergibt sich unterwegs schließlich ein wahrer Glücksfall. Ein kleines Dorf hat den zentralen Platz wunderschön herbstlich geschmückt und dabei offenbar einige Mühen aufgewendet. Kürbisse und Strohballen ergeben bereits ohne den blauen McLaren durchaus sehenswerte Arrangements – mit Sportwagen wirken sie schließlich fast surreal. Fahrten unter herbstlich bunten Bäumen hindurch führen dann zu passenden Bildern im Laub, wo der glänzende Lack des Supersportwagens als guter Kontrastpunkt dient. Wo wir schon bei Kontrasten sind: Der von uns gefahrene Testwagen trägt ein schwarz lackiertes Dach und gelbe Bremssättel sowie einige Sichtcarbon-Akzente als optionale Exterieurdetails.

Doch eigentlich ging es ja darum, den 720S zurück nach Hause zu bringen. Vielleicht ist Ihnen, wie diversen Gesprächspartnern zuvor, inzwischen bereits das britische Kennzeichen Y400 MCL aufgefallen. Wie kann es sein, dass der Wagen auf der Insel zugelassen, aber linksgelenkt ist? Ganz einfach, die Europa-Pressewagenflotte von McLaren ist komplett im Werk in Woking westlich von London angemeldet. Nach rund 20.000 Kilometern gehen diese Fahrzeuge zurück, werden komplett überholt und gehen anschließend in den Gebrauchtwagenverkauf der europäischen Händler. Unser Exemplar erreichte diese Distanzgrenze tatsächlich innerhalb von lediglich acht Monaten, in denen es neben diversen Fahrten innerhalb von Deutschland wohl auch auf Achse an der Formel-1-Rennstrecke von Budapest in Ungarn war, wie das Navigationssystem unter den letzten Zielen verriet.

720 Kilometer bis Woking, dann mal los

Wenn der Wagen eine solche Distanz problemlos zurücklegt, dürfte die Fahrt heim nach Woking ja kein Problem darstellen. Morgens um 6:00 Uhr klingelt der Wecker, eine kurze Morgentoilette nebst Minifrühstück und Tankstopp später geht es los. Insgesamt 720 Kilometer stehen dabei anfänglich als zu bewältigende Wegstrecke im Display. 720? Na, das passt ja gut. Allerdings besagt die Restreichweite selbst mit komplett gefülltem Tank, dass dies nicht funktionieren wird. Kurz vor der deutsch-niederländischen Grenze erfolgt daher ein kurzer Nachfüllstopp. Um es vorwegzunehmen: Mit der nun im Tank vorhandenen Menge ging es tatsächlich problemlos bis vor den Haupteingang des MTC (McLaren Technology Center), inklusive Restreichweite. Hauptgrund dafür ist natürlich das strenge Tempolimit in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Großbritannien. Hier rollt der 720S mühelos im siebten Gang im Verkehr mit, wobei das Getriebe sinnvollerweise direkt im Automatikmodus verbleibt. Kilometer um Kilometer geht es Richtung Calais und damit dem Eurotunnel zu. Doch dann meldet sich das Navi und fordert zur Umfahrung eines Staus auf. Also runter von der Autobahn und quer durch einige belgische Dörfer.

9 1/2 Stunden unterwegs – alles nur geträumt?

Der geplante Zug unter dem Ärmelkanal rückt derweil in weite Ferne und ist schließlich bereits seit fünf Minuten abgefahren, als der McLaren das Gelände vor dem Tunnel unter die Räder nimmt. Die Eingabe der Buchungsdaten an den Self-Service-Terminals gestaltet sich übrigens aus einem tiefen Sportwagen heraus durchaus unbequem, ist aber letztlich doch möglich. Es gibt einen Platz auf dem Folgezug eine halbe Stunde später, somit ist noch kurz Zeit für einige letzte Bilder des Wagens. Aufgrund der Fahrzeugbreite geht es hinter einem Pferdetransporter her in den Transporter- und LKW-Teil des Zuges, wo die Durchfahrbreite der Waggons weniger Anlass zur Sorge um die Felgen gibt. 45 Minuten später geht es auf der anderen Seite des Ärmelkanals auf die andere Fahrbahnseite. Eine kurze Vollsperrung und eine weitere Stau-Umfahrung später rollen der McLaren und ich um 15:00 Uhr Ortszeit, also 16:00 Uhr deutscher Zeit nach 9 1/2 Fahrstunden in Woking vor, wo bereits das Shuttle zum Flughafen wartet. Und so sitze ich kurz darauf in London-Heathrow mit Blick auf den Duty-Free-Bereich und einen Harry-Potter-Laden und frage mich, ob das alles nur ein Traum war, aus dem ich zu schnell aufgewacht bin. Doch die Bilder auf meiner Kamera und die Erinnerungen an 720 PS sind noch zu real, es muss also wirklich passiert sein. Danke Y400 MCL für 720 (plus ein paar) anstandslose Kilometer von Deutschland nach Großbritannien. Danke McLaren für diese sehr kurzfristige und interessante Möglichkeit, das aktuelle Produkt der hauseigenen Super Series auszuprobieren. Und natürlich danke Petrus für den goldenen Oktober 2018, der die Fahrten mit dem 720S deutlich angenehmer gestaltete als dies im Regen möglich gewesen wäre.

Bilder: Matthias Kierse, Katrin Pitsch