Die Geschichte der Rolls-Royce-Kühlerfigur
Seit mehr als einem Jahrhundert schmückt eine hübsche Dame den Kühlergrill der Fahrzeuge von Rolls-Royce. Fast jeder Autofan kennt dieses Maskottchen, doch die Geschichte dahinter ist deutlich weniger bekannt. Aus heutiger Sicht könnte es fast fraglich erscheinen, eine Figur mit dieser Geschichte zu verwenden. Doch wir beginnen am Anfang und nicht im Heute. Zuerst einmal muss man hierfür vier Persönlichkeiten vorstellen. John Walter Edward Douglas-Scott-Montagu, der zweite Baron Montagu of Beaulieu (1866-1929) war Autopionier in Großbritannien und Herausgeber des „The Car Illustrated“-Magazins. Claude Goodman Johnson (1864-1926) war anfangs Sekretär des Automobile Club of Great Britain & Ireland (heute RAC) und arbeitete ab 1903 für Charles Stewart Rolls bei Rolls-Royce. Der Künstler Charles Robinson Sykes (1875-1950) arbeitete als Skulpteur und Illustrator unter dem Pseudonym Rilette unter anderem auch für Lord Montagu und Claude Johnson. Die vierte wichtige Person war Eleanor Velasco Thornton (1880-1915).
Eleanor Thornton stand Modell
Bereits in jungen Jahren arbeitete Eleanor als Model, exotische Tänzerin und Schauspielerin. Zugleich war sie erst Assistentin von Claude Johnson und schließlich 1902 Büroleiterin von Lord Montagu. Für Charles Sykes fungierte sie als Aktmodell und Muse. Montagu führte rund 14 Jahre lang eine Affäre mit ihr, aus der 1903 eine uneheliche Tochter hervorging. Diese wurde zur Adoption freigegeben, aber der Lord kümmerte sich zeitlebens als väterlicher Freund um ihre Belange. Eleanor hingegen wollte nichts von ihrem Kind wissen. Ebenfalls 1903 entstand eine erste Skulptur von Eleanor, die Lord Montagu dem Sieger des Gordon-Bennett-Rennens in Irland überreichte. Eine weitere Figur mit ähnlichem Aussehen stand unter dem Titel „Bacchante“ auf Ausstellungen der Royal Academy of Arts und in Paris. Ungefähr zur gleichen Zeit – der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr bekannt – beauftragte Lord Montagu Charles Sykes mit der Erschaffung einer Kühlerfigur für seinen privaten Rolls-Royce.














Kühlerfigur für Lord Montagu
Zur damaligen Zeit waren einzigartige Kühlerfiguren für reiche Autobesitzer fast eine Selbstverständlichkeit. Sie deckten den Einlass der Wasserkühler ab und drückten zugleich den individuellen Geschmack aus. Für Lord Montagu entstand unter dem Titel „The Whisper“ eine kleine Aluminiumfigur einer jungen Frau in wehendem Gewand mit einem Finger an den Lippen. Erneut stand Eleanor Thornton Modell, wobei unbekannt ist, ob sie wusste, für wen die Kühlerfigur bestimmt war. Lord Montagu gefiel sie auf jeden Fall so gut, dass er sie auf jedem Rolls-Royce bis zu seinem Tod 1929 montieren ließ. Diese Figur diente wohl als Inspiration für die offizielle Kühlerfigur von Rolls-Royce – zumindest deuten diverse Ähnlichkeiten darauf hin. Seine Affäre mit Eleanor endete 1915 tragisch. Beide waren an Bord der SS Persia auf dem Seeweg nach Indien. Ein Torpedo versenkte das Schiff innerhalb von nur fünf Minuten. Lord Montagu überlebte mit viel Glück in einem Rettungsboot, während Eleanor ums Leben kam.
Johnson beauftragte Figur für Rolls-Royce
Rolls-Royce gehörte zu den ersten Marken, die ein eigenes Emblem auf den Kühler schrauben wollten. Henry Royce missfielen viele der Figurunikate seiner Kundschaft. Katzen, Teufel oder winkende Polizisten hielt er für geschmacklos. Johnson als Assistent der Geschäftsleitung beauftragte über Lord Montagu den Künstler „Rilette“ mit der Erschaffung einer würdigen Figur. Dabei gab er als Inspiration die „Nike von Samothrake“ von 190 v. Chr. an, die im Pariser Louvre ausgestellt ist. Sykes entschied sich jedoch für eine feinere, anmutigere Frauenform, für die wohl erneut Eleanor Thornton als Modell bereitstand. Bei den Gesichtszügen scheint der Künstler jedoch seine Mutter Hannah Robinson Sykes verewigt zu haben. Ursprünglich nannte er sein Werk „The Spirit of Speed“, woraus jedoch bereits 1911 die von Rolls-Royce geschützte „Spirit of Ecstasy“ wurde. Neun Jahre später gewann dieses Kühlermaskottchen einen Wettbewerb in Paris.














Sykes fertigte jede Figur selbst an
Von 1911 bis 1928 goss Charles Sykes persönlich jedes Exemplar und signierte sie anschließend. Anschließend übernahm seine Tochter Josephine bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 dieses Handwerk. Daher sind auch alle „Spirit of Ecstasy“-Figuren bis zu diesem Zeitpunkt in kleinen Details unterschiedlich. Inzwischen entstehen sie im Wachsgussverfahren bei einem Spezialbetrieb in Southampton. Dabei nutzen die dortigen Mitarbeiter hochakkurate Eisenformen, die mit Wachs gefüllt werden. Diese Wachsmodelle überzieht man mit Keramik, schmilzt das Wachs heraus und füllt die so entstandene Negativform mit flüssigem Edelstahl. Sobald das Metall erkaltet ist, werden die Formen zerbrochen und die Figuren in einem Bad aus feinsten Stahlkugeln poliert. Es folgen weitere Polierarbeiten und die Qualitätskontrolle, ehe die Kühlerfiguren an Rolls-Royce geliefert werden.
Versenkmechanismus wurde nötig
Bis 1939 blieb die Kühlerfigur ein aufpreispflichtiges Extra, das nur auf rund 40 Prozent der Fahrzeuge verbaut wurde. Erst danach erhob man sie zur Serienausstattung. Zwischen 1934 und 1959 konnten die Kunden neben der stehenden Version auch eine knieende Figur bestellen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden Größe und Aussehen der Figur immer wieder angepasst. Zudem verbannten viele Länder Kühlerfiguren ab den 1970er Jahren, um das Verletzungsrisiko bei Unfällen mit Passanten zu reduzieren. Besonders drastisch war das Verbot in der Schweiz, wo Rolls-Royce fortan die „Spirit of Ecstasy“ nur noch ins Handschuhfach packte. Erst als die Ingenieure der Marke einen Mechanismus entwickelt hatten, der die Figur bei der leichtesten Berührung absinken ließ, konnte diese wieder würdig auf der Haube thronen. Inzwischen funktioniert dieser Mechanismus elektrisch und heißt „the rise“. Beim kommenden Elektromodell Spectre zeigt sich die Figur in modernisierter Optik.
Bilder: Rolls-Royce