Automotive Art 22 – Miller 91

Bill Pack nimmt uns diesmal mit auf eine Reise ins Jahr 1927. Für Rennen wie das legendäre Indy 500 entstanden in den USA spezielle Rennfahrzeuge. Der Miller 91 ist ein hervorragendes Beispiel.

Herzlich willkommen zu einem neuen Teil unserer monatlichen Automotive Art Sektion mit Fotograf und Lichtkünstler Bill Pack. Er rückt das Design von Oldtimern in besonderem Maße in Szene und erklärt seine Interpretation der Styling-Ideen mit einigen interessanten Bildern, die er in seinem eigenen Stil aufgenommen hat.

In den Kopf des Designers – von Bill Pack

Es ist einfach, viele Fakten und Informationen über jeden Automobil-Designer zu erfahren. So lässt sich schnell herausfinden, für welche Firmen sie im Laufe der Zeit gearbeitet haben, welche Automodelle sie entworfen haben und welche Innovationen sie in die Branche gebracht haben. Wir wissen also viel von ihnen, aber wir kennen sie nicht. Mit meinen Bildern versuche ich, in die Seele und den Geist des jeweiligen Designers zu gelangen. Ich konzentriere mich auf bestimmte Teile des Autos und verwende meine Beleuchtungstechnik, um die emotionalen Linienführungen des Designers hervorzuheben.

1927 Miller 91 – Designed by Harry Miller

Ein Fest in Bewegung – Ich hatte das seltene Privileg, vom Phoenix Art Museum den Auftrag zu erhalten, durch die Vereinigten Staaten zu reisen und meine Automobilkunst-Bilder für die Ausstellung „Legends of Speed“ zu erschaffen. Diese Ausstellung lief bis zum 15. März 2020 und zeigte 22 ikonische Rennwagen aus den Jahren 1911 bis 1978.

Jedes dieser Autos wurde in bedeutenden Rennen von ikonischen Fahrern gefahren. Von Sir Stirling Moss bis Dan Gurney und Mario Andretti, von Le Mans und Indianapolis 500 bis zum Grand Prix von Italien und vielen anderen. Die Rennsporthistorie ist reich an Geschichten.

Mein Teil dieser Geschichte war eine zwölftausend Meilen lange Gran Turismo, die mich in alle vier Ecken der Vereinigten Staaten und in einige der begehrenswertesten und bedeutendsten Privatsammlungen der Welt führte.

Eines dieser Ziele war am legendären ‚Brickyard‘ in Indianapolis, wo ich einen Tag mit Harry Miller’s Kreation, dem Miller 91 von 1927 verbrachte.

Die Planung der großen Reise durch Amerika erfolgte nach sorgfältiger Planung und Konzeption. Was jedoch nicht berücksichtigt wurde, war das Datum, an dem wir in Indianapolis ankamen, um den Miller zu fotografieren. Es war zufällig die Testwoche des Indy 500. Wir verbrachten zwei Tage auf der berühmten Rennstrecke, um Bilder von drei legendären Indy-Autos für „Legends of Speed“ zu erstellen, während die Tests für das Zeitfahren am Wochenende liefen.

Die Motorengeräusche der modernen Indy-Autos hallten durch den Raum, während ich Bilder von ikonischen Autos der Indy-Vergangenheit entwarf. Es ist eine besondere Erfahrung, die ich niemals vergessen werde.

Harry Miller wurde am 9. Dezember 1875 in Menomonie, Wisconsin, geboren, einer kleinen Gemeinde im Nordwesten des Staates. Sein Vater Jacob war ein deutscher Einwanderer. Seine Mutter war Martha (Tuttle) Miller. Jacob war Lehrer, Musiker und ein versierter Maler.

Kunstfertigkeit in ihren vielen Formen war eine der Eigenschaften, die sein Vater weitergab, aber Harry entdeckte neue Formen von Leinwänden und Instrumenten, um seine Noten für seine eigenen Kreationen zu spielen. Seine Kunst ist reine kinetische Kunst in der Statik, aber in der Bewegung entfesselt sie ein symphonisches Dröhnen, das noch immer auf den ikonischen Rennbahnen der Welt erklingt.

Enzo Ferrari ist bekannt für die Aufmerksamkeit, die er seinen Motoren schenkte, aber Enzo baute nur Motoren. Harrys Liebe zum Detail umfasste jeden Aspekt des Autos.

Harry Miller war einer der wenigen, der die perfekte Balance von Form und Funktion als Ganzes schuf. Um dies zu erreichen, wurde so gut wie jedes Teil des Miller in seinem eigenen Werk hergestellt. Er musste nicht nur optimal funktionieren, sondern auch optisch ansprechend sein. Es dauerte etwa 6.000 bis 6.500 Arbeitsstunden, um ein komplettes Auto zu bauen. Zwischen 700 und 1.000 Stunden flossen in die Verschönerung – nur um das Finish jeder einzelnen Maschine zu gewährleisten.

Dies sagte Daniel Strohl in einem Artikel über die Autos von Miller. „Das Miller-Auto mit Frontantrieb schien ein perfekt integriertes harmonisches Ganzes zu sein, als Maschine und skulpturales Objekt. Es hatte etwas an sich, das beinahe erhaben war. Ohne den Antriebsstrang durch das Cockpit saß der Fahrer etwa 23 Zentimeter tiefer als in einem vergleichbaren Auto mit Heckantrieb. Miller reduzierte die Höhe des Kühlers weiter und das Ergebnis war ein niedriges, schnittiges Auto von unübertroffener Schönheit. Die lange, niedrige Motorhaube des neuen Millers vermittelte nichts als Kraft und etablierte unter den Stylisten ein virtuelles Mandat für eine lange Motorhaube oder die Illusion einer solchen für die kommenden Jahrzehnte. Es war zweifellos der größte einzelne Meilenstein in der Entwicklung des Erscheinungsbildes des Automobils zwischen dem Ende der Edwardianischen Ära und der Stromlinienform der 1930er Jahre. Der Miller-Frontantrieb war eine Bombe aus Ingenieurs- und Stylingideen, die auf ein somnolentes Detroit geworfen wurde.“ Einfach ausgedrückt: Harry Miller war die größte kreative Figur in der Geschichte des amerikanischen Rennwagens.

Entdecken Sie in dieser Sammlung von Bildern das Erhabene, das harmonische Ganze, das maßgeschneiderte skulpturale Objekt, das ist die Kunst von Harry Miller.

Miller 91 – Details von Matthias Kierse

Ein paar Hintergrundinformationen zu Harry Miller finden sich bereits in den Ausführungen von Bill Pack weiter oben in diesem Artikel. Doch lassen Sie uns noch ein wenig tiefer in das Wirken und Leben dieses Konstrukteurs eintauchen, der diesseits des Atlantiks größtenteils unbekannt ist.

Harold Arminius Miller ließ sich von den allermeisten Menschen in seiner Umgebung schlicht mit ‚Harry‘ ansprechen. Zwischen 1901 und 1905 verbrachte er eine kurze Zeit bei der Yale Automobile Company in Toledo, Ohio und wechselte von dort zu Oldsmobile unter der Leitung von Ransom E. Olds. Dort durfte er erste Rennfahrzeuge für den Vanderbilt Cup konstruieren, die jedoch 1906 keine großen Erfolge erringen konnten. So kündigte er seinen Vertrag und zog nach Los Angeles um, wo er eine eigene Firma zur Fertigung von Vergasern eröffnete.

Tatsächlich gehen auf sein Konto diverse Entwicklungen, die heute im Automobilbau als Selbstverständlichkeit gelten. Darunter unter anderem jene Aluminiumlegierungen, die bis heute für Motorblöcke, Kolben und Getriebegehäuse Verwendung finden. Zudem soll er das motorisierte Fahrrad und den Außenbordmotor für Boote auf den Weg gebracht haben. Sein Hauptinteresse waren jedoch stets Rennwagen. Durch die Vergaserfirma, die ihm bereits 1910 eine Million US-Dollar pro Jahr an Gewinn einbrachte, kam er schnell in Kontakt mit Besitzern und Rennställen, die erst ihre Autos zu ihm zur Reparatur brachten und schließlich eigenständige Fahrzeuge in Auftrag gaben.

Anfang der 1920er Jahre entstand erstmals ein eigener Motor, finanziert durch den Autofan Tommy Milton und Barney Oldfield. Mit 183 Kubikzoll Hubraum (drei Liter) aus vier Zylindern, zwei obenliegenden Nockenwellen und vier Ventilen pro Zylinder lesen sich die technischen Daten beinahe wie bei einem Triebwerk der heutigen Zeit. Beim Indy 500 1922 saß dieser Motor in einem Duesenberg-Chassis und wurde von Jimmy Murphy zum Sieg gesteuert. Daraufhin erstellte Harry Miller eigene Monoposto-Rennwagen und machte den Motor durch Kompressoraufladung noch leistungsstärker. So gelang 1923 direkt der nächste Sieg.

Ab 1926 senkte der Rennorganisator den Hubraum auf 1,5 Liter (91 Kubikzoll). Anstatt schlicht den Hub des vorhandenen Motors zu senken, entwickelte Harry Miller mit seinem Team rund um Fred Offenhauser und Leo Goosen einen komplett neuen Antrieb nebst passendem Auto. Von Anfang an setzte er dabei auf Kompressoraufladung des neuen Reihenachtzylindermotors. Damit erreichte er anfänglich rund 155 PS bei 7.000 U/min, was später durch Feinarbeiten und Fahrversuchen auf deutlich über 250 PS bei 8.000 U/min anstieg. So folgten mit diesem Triebwerk weitere Indy-Siege 1926, 1928, 1929, 1930, 1931, 1932, 1933, 1934, 1936 und 1938, viermal davon in Miller-Fahrzeugen.

Eine Besonderheit des Miller 91 war dabei der von Bill Pack bereits angesprochene Vorderradantrieb (wobei es auch Varianten mit Heckantrieb gab). Letztlich stellte Harry Miller mit seinen Autos und Motoren zwischen 1922 und 1928 zeitweise bis zu 83 Prozent des Starterfeldes beim Indy 500. Allerdings beschäftigte sich Miller mit seinen Ideen nur so lange, bis er sie Leo Goosen geschildert hatte. Dieser erstellte maßstabsgenaue Zeichnungen und gab diese an Fred Offenhauser weiter, der für die Anfertigung zuständig war. In dieser Zeit hatte Miller jedoch bereits wieder mindestens zwei neue Ideen.

Da andere Rennwagenbauer und Motorkonstrukteure auf die Rennorganisatoren in Indianapolis einwirkten, änderten diese für 1930 die Regeln und machten den Miller 91 und dessen Triebwerk obsolet. Trotz der großen Erfolge im Vorfeld musste Harry Miller seine Firma an Investoren verkaufen. Er nahm einige seiner fähigsten Mitarbeiter, darunter Goosen und Offenhauser, mit und gründete eine neue Firma, die jedoch 1933 in die Insolvenz rutschte, nachdem Miller unverkäufliche 12-, 16- und 24-Zylinder-Motoren entwickelt hatte. 1935 begründete er zusammen mit Preston Tucker die Firma Miller and Tucker Inc., die für Ford zehn V8-Rennwagen bauen sollte. Allerdings war die Entwicklungszeit zu kurz und so fielen diese Autos aus, als die zu dicht am Auspuff verbauten Lenkgetriebe überhitzten und sich festfraßen. In der Hand von Privatfahrern wurden diese Renner perfektioniert und noch bis 1948 beim Indy 500 eingesetzt.

Gemeinsam mit Preston Tucker arbeitete Miller anschließend am Tucker Combat Car, das Soldaten auf Asphalt mit bis zu 185 km/h und auf unwegsamen Gelände mit bis zu 105 km/h transportieren sollte. Einige Ideen dieser Entwicklung nahm er mit zu American Bantam, wo er die Urversion des Jeep mitentwickelte. 1943 verstarb er mit nur 67 Jahren. Sein Konstrukteur Offenhauser führte das Motorgeschäft mit weiterentwickelten Miller-Motoren mit Indycar-Rennteams erfolgreich unter eigenem Namen fort. Offenhauser-Triebwerke errangen bis 1976 weitere 27 Siege.

Autoren: Bill Pack, Matthias Kierse

Bilder: © by Bill Pack