50 Jahre Melkus RS1000

Die Automobilszene der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik war bei weitem nicht so demokratisch, wie es der Staatsname versprach. Von Seiten der Regierung gab man klare Vorgaben an die einzigen beiden zugelassenen PKW-Hersteller Sachsenring und Wartburg. Änderungen und Modifikationen an den bestehenden Konstruktionen dauerten teils Jahre und Jahrzehnte oder wurden von vornherein untersagt. An Neuentwicklungen war gar nicht erst zu denken, auch wenn diverse Projekte angestrebt wurden. Neben Trabant P601 und Wartburg 353 gab es ab Mitte der 1960er Jahre also keine Fahrzeuge aus einheimischer Produktion. Auch aus den sozialistischen Bruderstaaten wie der Sowjetunion oder der Tschechoslowakei gab es nur eine begrenzte PKW-Auswahl, die zudem nicht für alle DDR-Bürger problemlos erhältlich waren. Träumte man zudem vom Motorsport oder einem rassigen Sportwagen, lautete die einzig erhältliche Antwort: „Njet!“

Die einzige Möglichkeit, um doch in den Genuss eines sportlichen Automobils zu kommen, waren Eigenbauten mit verfügbaren Teilen, wobei diese ‚Verfügbarkeit‘ deutlich eingeschränkter zu verstehen ist, als in der heutigen Zeit mit vollen Ersatzteillagern und Online-Bestellungen, die in 24 Stunden vor der Haustür liegen. Heinz Melkus aus Dresden war einer, der den Motorsport-Traum träumte. Ab 1955 fuhr er auf internationalem Niveau Sportwagen- und Formel-Rennen, war mit seinem Material gegen die großen Teams jedoch meist unterlegen. Als 1958 die neue Formel Junior an den Start gebracht werden sollte, wollte er von Anfang an wettbewerbsfähig antreten können, brauchte dazu jedoch ein wenig staatliche Unterstützung. Dort jedoch, in der DDR-Regierung, wollte man den Motorsport am Liebsten komplett beenden, da die bisherigen internationalen Bemühungen der Fahrer aus der DDR weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Durch hohes diplomatisches Geschick, die Nutzung seines Netzwerks und einige gut formulierte Veröffentlichungen erreichte Heinz Melkus jedoch eine Veränderung der Meinung zur Aussage, dass Straßenrennsport „eine gesellschaftlich wichtige, nützliche und notwendige Tätigkeit“ sei. Auf diese Weise erhielt er die für ihn wichtigen Kontingentzusagen für Baugruppen und PKW-Komponenten, ohne die in der DDR-Planwirtschaft gar nichts funktionierte. Daraus entwickelte er gemeinsam mit einem Team den ersten ostdeutschen Formel-Junior-Rennwagen, dessen Antrieb von einem Zweitaktmotor übernommen wurde und der auch international gute Platzierungen erzielte. Durch den Bau der Berliner Mauer und die Abschottung der Grenzen in Richtung Westen im Jahr 1961 endete die freie Teilnahme an großen Rennen in Europa schlagartig.

Heinz Melkus und sein Team durften aufgrund ihrer Erfolge immerhin noch an einigen ausgesuchten Rennveranstaltungen teilnehmen. Bei einem Formel-3-Lauf in Jugoslawien erblickte er ein frühes Exemplar des Lotus Elan, dessen pures Leichtbaukonzept in ihm den Wunsch nach einem eigenen Straßensportwagenprojekt mit der Chance auf Motorsporteinsätze weckte. Anfänglich dachte er dabei an einen offenen, zweisitzigen Roadster, den er auch als Gipsmodell im Maßstab 1:10 umsetzte. Aufgrund der stetig schwieriger werdenden Ersatzteilversorgung und den weiterhin nur schwer erhältlichen Kontingentscheinen musste man jedoch realistisch bleiben und schauen, was sich mit den wenigen verfügbaren Komponenten erreichen ließ. Trotz einer Lieferzeit von rund sechs Jahren pro Auto entschied man sich als technische Basis für den 1966 vorgestellten Wartburg 353. Allerdings drehte man das Antriebskonzept um, wodurch das Triebwerk nun hinten saß, und verschweißte zusätzliche Streben zur Versteifung. Inspiriert durch zahlreiche zeitgenössische Sportwagen aus aller Welt, wie den Ford GT40 oder den Porsche 904 Carrera GTS erstellte Heinz Melkus gemeinsam mit seinen Söhnen Peter und Ulli ein 1:10-Gipsmodell eines rassigen Sportcoupés. Dieses war optisch schon dicht am späteren Serienmodell, wurde aber in diversen Details verfeinert und schließlich vom Designer Stefan Scheitler an der Berliner Kunsthochschule als Clay-Modell im Maßstab 1:5 aufgebaut. Auf Fotos dieses Modells zeichnete die Melkus-Familie zahlreiche weitere Modifikationen rot ein, die bis zur Umsetzung des ersten Prototypen ebenso noch ins Design einflossen, wie Erkenntnisse aus dem Windkanal. Während das Chassis, das Dach mit integriertem Überrollbügel und die Türen klassisch aus Stahl bestanden, ließ man die Karosserieteile aus glasfaserverstärktem Polyester fertigen. Beim Aufbau des Prototypen arbeitete man mit den Robur-Werken zusammen, die mit diesem Werkstoff Erfahrungen hatten, sonst aber nur leichte Lastwagen fertigten. Der fahrfähige Prototyp stand in nur sechs Monaten auf seinen Rädern. Aufgrund der geringen Bauhöhe von lediglich rund einem Meter entschied man sich für platzsparende, am Dach angelenkte Flügeltüren, um den Einstieg auch in engen Parklücken und den niedrigen DDR-Garagen zu ermöglichen.

Als Antrieb erhielt der Melkus GT1, wie der Prototyp benannt wurde, einen modifizierten Wartburg-Motor mit Dreivergaser-Anlage und Sportauspuff. Die Wartburg-Vorderachse wurde mit doppelten Querlenkern ausgerüstet, während die Hinterachse unverändert übernommen werden konnte – lediglich ergänzt durch Antriebswellen für den Hinterradantrieb. Anfänglich sorgten Trommelbremsen aus der Magnesiumlegierung Elektron für die Verzögerungsarbeit, die jedoch bald durch Scheibenbremsen vom Polski-Fiat 125p und dann von den beim Wartburg neu eingeführten Scheibenbremsen ersetzt wurden. Das Getriebe aus dem Wartburg 353 erhielt von der Firma König aus Dresden diverse Anpassungen. Am 1.1.1969 konnte Heinz Melkus endlich erste Testrunden mit dem Fahrzeug drehen. Bis zum April des gleichen Jahres flossen nochmals diverse Verbesserungen in den Melkus RS1000 GT1 ein, ehe er auf der ‚hallensia mobile‘ in Halle/Saale erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Nun ging es daran, den RS1000 für die Serie vorzubereiten. Hierzu musste zuerst einmal eine Genehmigung vom Kraftfahrzeugtechnischen Amt der DDR (KTA) eingeholt werden. Diese forderte nach der Besichtigung des Prototypen zahlreiche Veränderungen, wie die Anordnung der vorderen Blinkleuchten, der zu kleinen Größe der hinteren Seitenfenster und anderer Details. Nachdem diese Punkte am GT1-Prototyp abgearbeitet waren, erfolgte die Zulassung direkt vom IFA-Kombinat (Industrieverband Fahrzeugbau) in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), sodass ab 1970 die Serienfertigung anlaufen konnte. Der Verkaufspreis wurde auf 29.800 Mark festgesetzt, während beispielsweise ein Trabant P601 Standard für 8.500 Mark erhältlich war. Zudem forderte man eine Mitgliedschaft im Allgemeinen Deutschen Motorsport Verband (ADMV) der DDR und regelmäßige Rennteilnahmen von Melkus-Besitzern ein, was viele auch einhielten. Der GT1 musste zudem jedes Jahr für mehrere Wochen der KTA als Referenzfahrzeug zur Verfügung gestellt werden, um die Produktionsgenehmigung zu verlängern.

In der Serienversion stand der Melkus RS1000 auf Stahlrädern vom Wartburg, die Rennversion erhielt ultraleichte Felgen aus Elektron. Innen zeigte der GT1 noch das Armaturenbrett des Wartburg und Sitze auf Trabant-Basis, die alsbald gegen eine eigene Armaturentafel und selbst entwickelte Sportsitze getauscht wurden, deren Bezüge ein RS1000-Kunden aus Ribnitz-Damgarten anfertigte. Der hohe Improvisationsgrad zeigte sich anhand der Außenspiegel der ersten Fahrzeuge, die aus dem Gehäuse einer Fahrradlampe und dem aus einem LKW-Spiegelglas ausgeschnitten runden Spiegel bestanden. Die Rahmen kamen direkt von der VEB Metallverarbeitung Maxen, die für die gesamte DDR für die Regenerierung von Wartburg-Chassis nach Unfallschäden oder Durchrostungen zuständig war. Auch das Material für die zusätzliche Y-Strebe und weitere Versteifungen stammte aus Maxen, wurde bei Melkus in Dresden von Hand angeheftet und nach einer Rücksendung in Maxen per CO2-Schutzgasverfahren durchgeschweißt. Motoren, Achsen und weitere Komponenten holte man sich per LKW aus dem Ersatzteillager der VEB Automobilwerke Eisenach – und ließ zum Dank Kleinigkeiten wie Bierkisten für die Belegschaft dort. Im späteren Verlauf der 1970er Jahre schlug die DDR-Mangelwirtschaft nachhaltig zu, wodurch man sich bei Melkus gezwungen sah, benötigte Teile entweder teuer bei den Vertragshändlern einzukaufen oder durch kurios anmutende Tauschgeschäfte zu erwerben. So erhielt man einmal zwei Achslenker gegen zwei Plätze in der Fahrschule, die Heinz Melkus neben seiner Automobilbaufirma noch betrieb.

Für die anfangs im Bautzener Werk der VEB Robur und später bei Röber in Bautzen gefertigten Karosserien standen alle in der DDR verfügbaren Lackfarben zur Auswahl. Allerdings gab es auch Fahrzeuge in Metallic-Lackierungen aus Westeuropa, die hierfür eigens auf verschlungenen Pfaden von den späteren Fahrzeugbesitzern in ausreichender Menge organisiert wurden. Aufgrund der stetig schwieriger werden Teileversorgung beendete Heinz Melkus 1979 die Produktion des RS1000 nach exakt 101 gebauten Exemplaren. Zwischenzeitlich hatte es Bestrebungen gegeben, dem Sportwagen durch die Koppelung von zwei Wartburg-Dreizylindermotoren deutlich mehr Leistung zu verpassen. Allerdings stellte sich die Synchronisation als äußerst anspruchsvoll heraus. Andere Kunden versuchten sich am klassischen Tuning mittels aufbohren der Zylinder, wodurch der Hubraum von 998 auf 1.100 Kubikzentimeter und die Leistung von serienmäßigen 70 auf teilweise über 90 PS anstieg. Allerdings traten durch diese Bearbeitung speziell unter Rennbedingungen schnell thermische Probleme auf. Einige ADMV-Mitglieder gelangten über Beziehungen an die sogenannten ‚Leutert-Motoren‘, die eigentlich für die Rallye-Version des Wartburg 353 entwickelt worden war. Zudem gab es Kunden-Umbauten auf Lada-Technik oder den eigens importierten Motor eines BMW 2002. Nur theoretisch gab es auch Überlegungen, den V8 aus einem Tatra im Melkus unterzubringen. Dies hätte jedoch vermutlich zu einem extrem hecklastigen Fahrzeug mit schlechter Fahrbarkeit geführt.

35 Jahre nach der Produktionseinstellung gab es Melkus als Namen immer noch in Dresden: in Form eines BMW-Händlers, der ab und an klassische RS1000 restaurierte. Bei einer dieser Restaurierungen reifte die Idee, die Produktion des Sportwagens neu aufzunehmen. Das BMW-Autohaus wurde verkauft, Heinz Melkus verstarb und Peter Melkus befasste sich gemeinsam mit seinem Sohn Sepp intensiver mit der Idee einer limitierten Neuauflage. Nachdem man die Machbarkeit abgeklopft hatte, verwendbare Wartburg-Teile zusammengesammelt hatte (die Marke an sich gibt es seit 1991 nicht mehr) und aufgrund der technischen Weiterentwicklung einige Komponenten auf neue Materialien umgestellt hatte, entstand ein neuer Prototyp, der sich technisch an den letzten Stand des RS1000 von 1979 anlehnte. Allerdings bestehen nun auch die Türen aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Man fand sogar noch eine alte Gussform für die Elektron-Felgen und konnte so noch einmal 80 neue Felgen nachfertigen. Zu Preisen ab etwa 90.000 Euro entstanden zuerst 15 Fahrzeuge der ‚Heinz Melkus Edition‘ und bis heute rund 15 weitere RS1000 sowie zehn leistungsstärkere RS1000 GTR, wie eine weiterentwickelte Rennvariante für den seit  2013 angebotenen RS1000-Cup genannt wird. Unter den 30 Straßenfahrzeugen finden sich auch fünf ‚RS1600‘ mit einem Vierzylinder-Reihenmotor aus dem VW-Konzern und rund 100 PS. Die limitierte Fertigung des RS1000 läuft derweil weiter, Interessenten können also immer noch einen nagelneuen Melkus bestellen. Die auf der IAA 2009 präsentierte Nachfolgeserie RS2000 auf Basis der Lotus Elise wurde jedoch mangels Interesse nach wenigen Exemplaren wieder eingestellt.

Bilder: Melkus