50 Jahre Mercedes-Benz 300 SEL 6.3

Wer in den 1960er Jahren zum Mercedes-Benz Händler des Vertrauens ging, um ein Auto zu erwerben, wollte in der Regel eine bequeme Reiselimousine mit Repräsentationscharakter. Sportfahrer suchten sich ihre Fahrzeuge traditionell bei anderen Marken, teilweise auch in der schwäbischen Nachbarschaft. Erich Waxenberger, Versuchsingenieur beim Daimler, erkannte jedoch die Möglichkeiten, die sich aus dem Triebwerk der Luxuslimousine 600 (W 100) sowie den Karosserien des intern W 109 getauften Vorläufer der heutigen S-Klasse ergaben. Sein Prototyp, den er nach Feierabend aus einer verunfallten Coupé-Karosserie und einem ‚herumliegenden‘ Triebwerk zusammenbaut, bleibt nicht lange unbemerkt. Da es keine passende Abgasanlage für das deutlich kürzere Fahrzeug gab, machte der V8 entsprechend lautstark auf sich aufmerksam. Ein Motorsportprogramm mit lauten Rennewagen gab es in Stuttgart gerade nicht, wodurch sich bei Entwicklungschef Rudolf Uhlenhaut schnell der Verdacht einstellt, dass hier etwas Merkwürdiges vorgeht.

Beim Rapport meldet Waxenberger seinem Chef pflichtgemäß, was er da zusammengebaut hat und lässt ihn gern probefahren. Anschließend erfolgt direkt und ohne Wissen der Firmenleitung eine Weiterentwicklung. Ex-Rennsportleiter Uhlenhaut dürfte dabei ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen gehabt haben. Nachdem das Projekt weit genug vorangeschritten ist, werden alle wichtigen Herren des Hauses informiert und der Wagen schließlich als 300 SEL 6.3 auf dem Genfer Autosalon 1968 der Weltöffentlichkeit präsentiert. Von außen ist er auf den ersten Blick an den Halogen-Doppelscheinwerfern, zusätzliche Nebelscheinwerfer und doppelten Chromstoßstangen vorn und hinten erkennbar – selbst wenn der typische Schriftzug am Heck fehlen sollte.

Das vom 600er entlehnte V8-Triebwerk machte Modifikationen am Vorbau, Getriebetunnel und Unterboden des W 109 nötig und schöpft aus den namensgebenden 6,3 Litern Hubraum satte 184 kW/250 PS und ein maximales Drehmoment in Höhe von 500 Newtonmetern. In Verbindung mit einem Viergang-Automatikgetriebe spurtet die 1.780 Kilogramm schwere Oberklasse-Limousine in nur 6,5 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 – ein Wert mit dem Mercedes-Benz sogar Werbeanzeigen schaltete. Maximal sind mit der serienmäßigen Getriebeabstufung 220 km/h Höchstgeschwindigkeit machbar. Nach einem ersten Test schrieb die ‚Auto Motor und Sport‘: „Wir übernahmen eines der sorgfältig gehüteten ersten Exemplare, das noch nicht mit der Bezeichnung ‚6.3‘ verziert war. Das Fehlen dieser Bezeichnung hat zweifelsohne einige Porsche 911- und 911 S-Fahrer in Verwirrung gebracht, die – sonst Könige der Autobahn – von dem harmlos-distinguiert aussehenden Mercedes abgehängt wurden. Falls einer von ihnen zufällig diese Zeilen lesen sollte: Er braucht sein Fahrzeug nicht wegen mangelhafter Leistung beim Werk zu reklamieren.“

Auch im Interieur halten sich die Unterschiede im Vergleich zu den schwächer motorisierten Modellgeschwistern in Grenzen. Der Tacho hat eine andere, weiter reichende Skalierung, die analoge Zeituhr sitzt an einer anderen Stelle und ein Drehzahlmesser zählt zur Serienausstattung. Ebenso kommen ab Werk ein Fahrwerk mit Luftfederung und automatischer Niveauregulierung sowie innenbelüftete Bremsscheiben rundum, eine Servolenkung, ein Sperrdifferenzial, eine pneumatische Zentralverriegelung und elektrische Fensterheber zum Einsatz.

Ursprünglich hielten einige der Mercedes-Chefs den 300 SEL 6.3 für ein Produkt mit geringen Marktchancen, von dem nur eine kleine Stückzahl entstehen würde. Letztlich rollten jedoch zwischen Dezember 1967 und September 1972 insgesamt 6.526 Exemplare vom Band, wodurch die Topmotorisierung zum zweitmeist gebauten Ableger der Baureihe W 109 avancierte.

Selbst im Motorsport machte der große Benz von sich Reden, obwohl er als Oberklasselimousine natürlich nicht dafür vorgesehen war. Dennoch nutzte Erich Waxenberger einen minimal verbesserten Wagen ohne Stoßfänger mit Rechtslenkung gemeinsam mit Albert Poon beim ‚Guia 101‘, einem Sechsstundenrennen in der damaligen portugiesischen Kolonie Macao im Jahr 1969 und rollte als Sieger über die Ziellinie. Daraufhin vergrößerte man den Hubraum auf 6,8 Liter und nahm mit zwei derart bearbeiteten und einem lediglich leicht leistungsstärkeren Fahrzeug am 24-Stunden-Rennen im belgischen Spa-Francorchamps teil. Durch das hohe Gewicht fraß der Wagen jedoch im Akkordtempo die Reifen auf, was zum Rückzug führte. Zwei Jahre später hatte die junge Tuningschmiede mit ihrem 300 SEL 6.8 ‚Rote Sau‘ mehr Glück und fuhren auf Gesamtrang zwei und als Klassensieger ins Ziel.

Heute gehört der 300 SEL 6.3 zu den gesuchten Klassikern aus dem Hause Mercedes-Benz und erzielt im guten Zustand ab Note 2 Preise jenseits von 80.000,- €. Seine Nachfolge trat erst im Mai 1975 der 450 SEL 6.9 an.

Bilder: Mercedes-Benz