Lotus Evija

Immerhin acht lange Jahre ließ die britische Sportwagen-Ikone Lotus ihre Kunden und Fans warten, bis es wieder die Premiere eines neuen Modells zu feiern gab. Wenn man von dem in limitierter Auflage produzierten und 2015 auf der IAA präsentierten 3-Eleven einmal absieht. Jetzt wurde in London feierlich der Evija vorgestellt und auf einmal ist alles anders im Hause des traditionsreichen Sportwagenherstellers. War Lotus bisher ganz im Sinne des Gründers der Marke, Colin Chapman, bekannt für Leichtbau, der es den Sportwagen auch mit kleinen Motoren ermöglichte, ganz vorn mitzufahren, strebt man mit dem Evija in das Segment der Hypercars. In Zukunft heißen die Konkurrenten also nicht mehr Opel Speedster oder Renault Sport Spider sondern Koenigsegg oder Bugatti. Oder sollte man besser sagen Rimac? Denn genau wie der kroatische Supersportwagen ist der Evija rein elektrisch unterwegs.

Für Lotus ist die Präsentation des Evija ein Aufbruch in ein neues Zeitalter als Automobilmanufaktur. Seit Mai 2017 ist der chinesische Automobilkonzern Geely, zu dem auch die schwedische Marke Volvo gehört, Mehrheitseigner bei den Briten. Mit dem Evija ist jetzt erstmals der Einfluss und das Know-How aus dem Reich der Mitte spürbar. Entstanden ist dabei ein Sportwagen mit wirklich beeindruckenden Leistungsdaten, wenn man mal von einem Wert absieht, doch dazu später mehr. Der Antrieb des Evija besteht aus vier separaten Elektromotoren mit jeweils 500 PS, wobei jeder für sich ein Rad antreibt. Die Gesamtleistung des Allradsportwagens beträgt folgerichtig 2.000 PS. Damit ist der neue Lotus das zur Zeit leistungsstärkste Serienfahrzeug der Welt, knapp vor dem Rimac C_Two, der mit 1.914 PS in der Rangliste folgt. Besonders stolz ist die Entwicklungsabteilung in Hethel, dem Stammsitz der Marke, auf die Effizienz des Antriebs. „Mit unserem Evija besitzen wir ein extrem effizientes elektrisches Leistungspaket, das die Kraft in einer bisher noch nicht realisierten Form auf die Straße bringt. Batterie, Elektromotoren und Kraftübertragung erreichen einen Wirkungsgrad von 98 Prozent und setzen so neue Standards“, erklärte Entwicklungschef Matt Windle bei der Vorstellung des Wagens in London.

Die Energie ist in einer 200 kWh großen Lithium-Ionen-Batterie gespeichert, die gemeinsam mit Williams Advanced Engineering entwickelt wurde und genau hinter den Sitzen plaziert ist. Damit erreicht Lotus das Gefühl eines Mittelmotors in der Gewichtsverteilung und somit auch im Handling des Hypercars. Durch eine Glasabdeckung ist der Energiespender von außen zu besichtigen. Wie bereits kurz angerissen sind die Fahrleistungen des Evija fast konkurrenzlos. Die 2.000 PS werden von einem maximalen Drehmoment von 1.700 Newtonmetern flankiert, das typisch für Elektromotor direkt ab dem Start in vollem Umfang zur Verfügung steht. Daraus resultieren Beschleunigungswerte von unter drei Sekunden von 0 auf 100 km/h und unter neun Sekunden – nicht wie Sie, verehrte Leser, jetzt vielleicht vermuten, auf 200 km/h, nein, nach dieser Zeit fährt der Lotus Evija bereits 300 km/h schnell. Alles natürlich Werksangaben bei der Präsentation, denn getestet hat das neue Hypercar noch niemand.

Sorgt das Konzept des Elektroantriebs für das beeindruckende Drehmoment und die eindrucksvollen Beschleunigungswerte, ist es auf der anderen Seite auch für die einzige Enttäuschung bei den Leistungswerten verantwortlich. Lotus nennt eine Höchstgeschwindigkeit von 340 km/h. Das ist allein betrachtet kein schlechter Wert, verglichen mit den benzingetriebenen Mitbewerbern aus Frankreich oder Schweden jedoch weniger überzeugend. Koenigsegg erreichte bereits mit dem Agera RS unabhängig belegt über 100 km/h mehr und auch Bugatti hat deutlich die 4 vorne im Topspeed. Bevor jetzt wieder die mahnenden Finger erhoben werden, ich gebe gern zu, dass es sich in der Regel um reine Stammtischwerte handelt und selbst die Geschwindigkeit von 340 km/h wohl kaum von einem Evija-Besitzer je erfahren wird. Erst recht nicht in seinem Heimatland, in dem ein Tempolimit von umgerechnet 112 km/h auf den Autobahnen jeglichen Temporausch bereits im Ansatz erstickt.

Für die unterschiedlichsten Fahrsituationen stehen dem Fahrer drei verschiedene Fahrprogramme zur Verfügung. Im Modus ‚Range‘ steht die Optimierung der Reichweite im Vordergrund, im ‚City‘-Modus eine einfache Bedienung des Fahrzeugs im Stadtverkehr, während der ‚Sport‘- und Rennstrecken-Modus (‚Track‘) den Schwerpunkt auf maximale Fahrleistungen legt. Die Batterie kann nach Lotus-Angaben innerhalb von neun Minuten geladen werden – allerdings erst, wenn es tatsächlich 800 kW starke Ladestationen geben sollte. An den zur Zeit noch sehr seltenen Ladepunkten mit 350 kW vergehen nach Werksangaben zwölf Minuten bis 80 Prozent oder 18 Minuten bis 100 Prozent Aufladung. Auch das sind sehr akzeptable Werte, die im Vergleich zum Tankvorgang eines Benziners den Evija durchaus konkurrenzfähig erscheinen lassen. Als Reichweite gibt Lotus 400 Kilometer nach dem WLTP-Messverfahren an. Eine kleine Plakette mit der Inschrift ‚Hand Built in Britain‘, die an der Ladesteckdose des Evija angebracht ist, erinnert den Fahrer stets auf’s Neue an die Herkunft seines Hypercars.

Neben dem leistungsstarken Antrieb sorgt eine weitere Tatsache für die herausragenden Beschleunigungswerte und da befindet sich der Evija wiederum in der Tradition Colin Chapmans. Mit einem Leergewicht von nur 1.680 Kilogramm ist der neue Lotus auffällig leicht für ein Fahrzeug dieser Bauart. Erreicht wurde dieser Wert durch konsequenten Leichtbau in bester Lotus-Tradition und umfangreicher Nutzung von Technologien aus dem Motorsport. Das vollständig aus Kohlefaser gefertigte Chassis wird von der italienischen Manufaktur CPC in Modena beigesteuert. Der Herstellungsprozess entspricht der in der Formel 1 üblichen Fertigungsmethode. Das Monocoque wiegt bescheidene 129 Kilogramm.

Nun besteht ein wirkliches Hypercar nicht nur aus beeindruckender Technik und überragenden Fahrleistungen, auch die Optik spielt beim Verkaufserfolg eine nicht zu unterschätzende Rolle. Betrachtet man den neuen Evija von vorn oder von der Seite, darf man den Designern bescheinigen, dass ihnen ein modernes und harmonisches, aber nicht zu abgehobenes Design gelungen ist. In manchen Details entsteht der Verdacht, dass der eine oder andere Blick nach Maranello gewandert ist und man sich vom 488 Pista oder dem SF90 Stradale von Ferrari hat inspirieren lassen. Sowohl die Frontpartie mit der Anordnung der Scheinwerfer als auch die seitlichen Lufteinlässe tragen ziemlich eindeutig Ferrari-Gene in sich. Die Scheinwerfer stellen eine Premiere dar. Der Evija ist das erste Serienmodell, das die von Osram entwickelten Laser-Scheinwerfer einsetzt. Die kompakte Lichtanlage soll eine extrem gute Ausleuchtung der Straße erreichen.

Einen komplett anderen Stil zeigt der Evija in der Heckansicht. Es scheint, als sei den Designern plötzlich in den Sinn gekommen, dass so ein elektrisches Hypercar etwas futuristisches ist und man das auch im Design widerspiegeln muss. Schmale Leuchteneinheiten, die die gigantischen hinteren Luftauslässe einrahmen, dominieren den Blick auf das Heck ebenso wie der große, in der Mitte unterbrochene Diffusor. Typisches Problem vieler moderner Sportwagen: Vor lauter Design fehlt der Platz für die Anbringung des Kennzeichens sowohl vorn wie hinten. Insgesamt jedoch passen Front- und seitliches Design nicht wirklich zur Formgebung des Hecks. Während der Mechanismus der Türen stark an die aktuellen Modelle von McLaren erinnert, fällt in der Seitenansicht auf, dass Lotus auf klassische Außenspiegel verzichtet und diese zu Gunsten einer optimalen Aerodynamik durch Kameras ersetzt, die ihre Bilder auf das zentral vor dem Fahrer platzierte Display übertragen.

Damit wären wir im Inneren des neuen Lotus Evija angekommen. Ähnlich dem Heck zeigt sich das Cockpit des britischen Elektrorenners modern bis futuristisch. Das oben und unten abgeflachte Lenkrad mit Mittelmarkierung gibt den Blick auf ein digitales Display frei, das an die klappbaren Pendants von McLaren erinnert. Im Evija ist es jedoch feststehend angebracht. Auf Lenkstockhebel verzichtet Lotus komplett und verlegt die wichtigsten Bedienungelemente in die Mitte des Lenkrads, die Sekundärfunktionen finden sich in einer freischwebenden Mittelkonsole, die ein wenig an die Fernbedienung eines Entertainmentcenters erinnert. Soweit besticht der Evija durch ein stimmiges Desgn im Interieur. Die stark konturierten Sitze lassen einen guten Seitenhalt erwarten und bieten gute Platzverhältnisse für Fahrer und Passagier. Darüber hinaus bietet der Sportwagen als erster Lotus eine vollständige Konnektivität. Über die Datencloud kann der Besitzer zudem permanent mittels einer App seinen Wagen überwachen.

Ab kommendem Jahr will Lotus mit der Fertigung von maximal 130 Exemplaren des Evija im Stammwerk in Hethel beginnen. Die Fahrzeuge werden in Handarbeit montiert und die Bestellbücher sind seit einigen Tagen geöffnet. Um auf die Liste zu kommen, verlangt Lotus eine Anzahlung von 250.000 britischen Pfund (276.743 Euro). Für die einfachste Ausführung nennen die Briten einen Kaufpreis in Höhe von 1,7 Millionen Pfund (1,882 Millionen Euro). Dank der zahlreichen Möglichkeiten zur Individualisierung kann es auch ein wenig mehr werden. „Der Evija wird die Marke wieder in den Herzen der Sportwagenfreunde etablieren und den Weg zu weiteren visionären Modellen ebnen“, erklärte Markenchef Phil Popham etwas euphorisch in London. Mit Hilfe der chinesischen Mutter Geely sollen diverse weitere Modelle folgen, so unter anderem ein Nachfolger der seit 20 Jahren auf dem Markt befindlichen Elise. Insgesamt wollen die Chinesen fast zwei Milliarden Dollar in den traditionsreichen Sportwagenhersteller investieren. Sollten sie das so geschickt und sensibel wie bei Volvo umsetzen, sollte der Marke Lotus eine gute Zukunft beschert sein und ein zweites Debakel wie bei den großmundigen Versprechen eines Danny Bahar auf dem Pariser Salon 2010 erspart bleiben.

Bilder: Lotus