Lincoln Indianapolis by Boano

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte global eine Ära des Aufatmens. Nicht nur in Bezug auf die beendeten Jahre von Tod und Verderben, sondern vor allem durch eine neue Generation, die an alten Werten rüttelte und bisher in Stein gemeißeltes zu hinterfragen wagte. So war es auch mit der Automobilindustrie, die plötzlich mit aufsehenerregenden Showcars im Rampenlicht auftauchte. Und das sogar im vor dem Krieg eher konservativen Amerika. Dort hatten in Nachkriegszeit die großen italienischen Designhäuser wie Touring, Ghia, Pininfarina, Bertone und so weiter gezielt nach Abnehmern für ihre Entwürfe gesucht und waren zum Großteil fündig geworden. Der Wirtschaftsboom in den USA hatte auch dazu geführt, dass immer mehr Menschen in die Oberschicht aufstiegen und ihren Reichtum in Form von schicken Autos zeigen wollten. Europäisches Design stand dabei durchaus weit vorn auf den Wunschlisten, also mussten die ‚großen Drei‘ (Chrysler, General Motors und Ford) und die daneben platzierten Hersteller entsprechend reagieren und sich das Know-How einkaufen.

Hudson schloss eine Kooperation mit Touring ab, Packard arbeitete mit Bertone zusammen und Chrysler bestellte einige Konzeptstudien bei Ghia. Während General Motors überwiegend eigenständige Dream Cars aus dem hauseigenen Designstudio erstellen ließ, suchte man im Ford-Konzern nach außergewöhnlichen Lösungen. In Italien fand man auf Vorschlag eines Mitarbeiters schließlich einen jungen Karosseriebauer namens Gian Carlo Boano, der in seinem Alter von Anfang 20 bereits im Betrieb seines Vaters Felice Mario Boano, der Carrozzeria Boano in Turin mitarbeitete. Zuvor hatten beide für einige Zeit bei Ghia gemeinsam Fahrzeuge gestaltet. Man kam überein, dass Boano für den Turiner Autosalon 1955 auf Basis eines Chassis der neuen noblen Tochterfirma Lincoln eine Konzeptstudie zeichnet und aufbaut. Hierfür lieferte die Ford Motor Company das 1955er Fahrgestell mit der Chassisnummer 55WA10902 inklusive 225 PS starkem V8-Motor und Viergang-Automatik nach Turin, wo sich das Boano-Team umgehend ans Werk machte. An der technischen Grundlage mit Einzelradaufhängung vorn und Starrachse an Blattfedern hinten veränderte Boano dabei nichts.

In den 1950er Jahren war es noch üblich, neue Autos zuerst einmal von Hand großformatig aufzuzeichnen. Das einbrechende Düsenjet-Zeitalter spielte inzwischen klar eine große Rolle. Auch Boano nutzte entsprechende Inspirationen und erstellte für die Lincoln Studie entsprechende Skizzen. Zudem probierte man anhand einiger Metallbleche aus, ob die gewünschten Formen erstellbar sind. Das fertige Projekt wurde fristgerecht fertiggestellt und hörte auf den Namen Indianapolis. Mit seiner langen, nach vorn abfallenden Motorhaube ohne typische Kühllufteinlässe, je zwei untereinander angeordneten Rundscheinwerfern und vor allem dem außergewöhnlichen Design der Kotflügel mit je drei angedeuteten Auspuffrohren pro Seite vorn und Chromstreifen hinten wirkte der Lincoln Indianapolis wie aus einer fernen Zukunft. Um dem V8-Triebwerk genügend Frischluft zuzufächeln, befindet sich vorn unterhalb einer außen abwärts geschwungenen Chromstoßstange ein flacher Einlass. Die Weißwandreifen auf verchromten Felgen befinden sich hinter weiter heruntergezogenen Kotflügelausschnitten. Hinten nimmt die senkrechte Einfassung der Rückleuchten und der Auspuffendrohre die Optik der Frontpartie wieder auf.

Innen bietet der Lincoln Indianapolis Platz für zwei Passagiere auf lederbezogenen Sitzen in schwarz und weiß, die durch eine stufenförmige Konsole voneinander getrennt werden. Im mittleren Teil des Armaturenbretts befindet sich ein abdeckbares Areal, in dem alle Rundinstrumente und Schalter untergebracht sind. Der Wählschalter für das Automatikgetriebe befindet sich an der Lenksäule. Der Auftritt des Wagens auf dem Turiner Autosalon 1955 führte zu einer Titelstory in der November-Ausgabe der ‚Auto Age‘. Das Fahrzeug ging in den Besitz von Ford über und diente Henry Ford II lange als Privatauto. Bei einer Autoshow in Boston wurden Teile des Interieurs beschädigt. Kurz darauf kaufte Felix Duclos aus Manchester/New Hampshire die Konzeptstudie. Später ging der Lincoln an den Packard-Sammler Thomas Kerr, der aktives Mitglied des Classic Car Club of America war. Er behielt den Wagen für mehr als 30 Jahre und erkannte in dieser Zeit die besondere Relevanz als Einzelstück. Bei Jim Cox senior und seinem Sohn, Jim Cox junior in Pennsylvania erfolgte eine umfangreiche Restaurierung über zwei Jahre. In diesem Zuge sorgte man auch dafür, dass die bei der Studie nur angedeuteten Instrumente und die Servolenkung funktionsfähig gestaltet wurden. 2001 debütierte das fertiggestellte Auto beim Concours d’Elegance in Pebble Beach, wo es die Klasse ‚Postwar Custom Coachwork‘ gewann. Weitere Preise folgten beim Amelia Island Concours, beim Burn Prevention Foundation Concours und beim Bethlehem Concours sowie die Auszeichnung als ‚Most Outstanding Lincoln‘ in Greenwich 2003.

Es folgten ein paar weitere Besitzer, bevor der Wagen in die Andrews Collection aufgenommen wurde. Nach einem weiteren Auftritt in Pebble Beach, der mit dem Gewinn der Lincoln Klasse endete, ging der Lincoln Indianapolis 2015 an den heutigen Besitzer. Dieser überließ ihn 2016 als Leihgabe dem Frist Art Museum für die Ausstellung ‚Bellissima! The Italian Automotive Renaissance, 1945-1975‘. Nun bietet RM Sotheby’s dieses Unikat im Rahmen der Monterey Car Week zur Auktion an. Zum Fahrzeug gehört dabei eine umfangreiche Dokumentation inklusive Bildern vom Turiner Autosalon 1955 und Unterlagen der modernen Schönheitswettbewerbe. Bis heute gilt der Wagen als heißester Lincoln Hot-Rod aller Zeiten. Zum Schätzpreis machte das Auktionshaus bisher keine Angaben.

Bilder: RM Sotheby’s