Ferrari 375 MM Speciale by Ghia
Normale Ferrari-Modelle mit einer extern aufgebauten Sonderkarosserie sind heutzutage nur schwer vorstellbar. Natürlich gibt es wenige Ausnahmen, beispielsweise den Touring Berlinetta Lusso, generell sind Kunden heutzutage jedoch an die Gestaltung ab Werk gebunden. Dies war in den 1950er Jahren noch anders. Wer es sich leisten konnte oder wollte ließ das Fahrgestell seines neuen Ferrari zu einem Karosseriebauer wie Touring, Zagato, Bertone oder Ghia liefern, um dort ein individualisiertes Einzelstück zu erhalten. Unter diesen Kunden befand sich auch Robert C. Wilke, der Leiter und Besitzer der Leader Card Company in Milwaukee, Wisconsin. Seine Liebe zur Geschwindigkeit drückte er durch Sponsoring eines Teams bei den Indianapolis 500 von den 1930ern bis zu seinem Tod in den 70ern aus. Sein eigenes Team gewann dieses große Rennen 1959, 1962 und 1968. Privat fuhr er gern exotische Sportwagen. Als persönlicher Freund von Enzo Ferrari gehörten natürlich auch dessen Produkte zu seiner Sammlung. Im Laufe der Jahre besaß er sieben Ferrari, von denen die allermeisten Sonderkarosserien erhielten. Obwohl sie möglichst auffällig gestaltet sein mussten, verlangte Wilke gleichzeitig die Möglichkeit, seine Fahrzeuge im Alltag bewegen zu können. Reine Showcars wollte er nicht.
Der im Nachhinein historisch wichtigste Ferrari aus seinem Besitz und zugleich wohl auch der auffälligste war sein vierter mit der Chassisnummer 0476AM, der vorletzte gebaute 375 MM mit dem von Lampredi entwickelten V12-Triebwerk. Dieses entwickelte rund 340 PS durch den Einsatz von drei Weber Vergasern vom Typ 42 DCZ 3 und einer Zündanlage von Magneti Marelli. Anstelle bei Pinin Farina eine Karosserie für den Einsatz auf der Rennstrecke zu erhalten, schickte man dieses Fahrgestell im November 1954 im Auftrag von Wilke zu Ghia in Turin. Bis zum folgenden Frühjahr entstand dort die aufsehenerregende Coupé-Karosserie aus Leichtmetall über einem Stahlrohrrahmen, die in unserer Bildergalerie zu sehen ist. Insgesamt erhielten lediglich neun 375 MM eine Straßenzulassung und nur einer davon eine Karosserie von Ghia. Es war gleichzeitig der letzte von Ghia eingekleidete Ferrari. Dabei hielt man sich designtechnisch eng an Gestaltungsformen, die man in der gleichen Periode auch für die Konzeptstudie DeSoto Adventurer II oder die Supersonic Coupés auf Basis einiger Fiat 8V, Jaguar XK120, Aston Martin DB2/4 sowie einer AC Cobra 427 nutzte. An die lange Motorhaube schließt sich eine weit nach hinten versetzte Passagierzelle mit einer Dachlinie wie bei einem Schrägheck an. In die breiten B-Säulen integrierte man Luftauslässe. Weiter hinten warten angedeutete Heckflossen mit integrierten Rückleuchten.
Bis heute zeigt dieser Ferrari seine originale Farbgebung in ‚Salmon‘ (Lachs) über Anthrazit metallic, abgesetzt mit diversen Chromdetails. So gestaltet stellte Ghia den 375 MM gemeinsam mit dem berühmten, turbinenbetriebenen Konzeptfahrzeug Gilda auf dem Turiner Autosalon 1955 aus. Einen Monat später erreichte der Ferrari über den Händler Luigi Chinetti schließlich die Garage von Robert Wilke. Er behielt ihn bis zum Ende seines Lebens, ließ 1969 Sicherheitsgurte von International Harvester nachrüsten und fuhr den Wagen insgesamt nur rund 12.000 Kilometer. Nach seinem Tod verkaufte sein Sohn Ralph den 375 MM 1974 an Dr. Robert E. Steiner in Milwaukee. Zehn Jahre später verkaufte er ihn über den Händler Vintage Car Store in Nyack, New York, an die Blackhawk Collection in Danville, Kalifornien. Weitere drei Jahre später wechselte der Wagen in die Sammlung von Erich Traber in Europa, der den Ferrari auf diversen Veranstaltungen zeigte und fuhr. In der Werkstatt der Sportgarage Graber, deren Inhaber er war, erhielt das V12-Triebwerk eine umfangreiche Revidierung.
Seit August 2007 gehört der Ferrari 375 MM Speciale by Ghia dem heutigen Besitzer und war seither nur bei wenigen Events zu sehen. Vor einigen Jahren erfolgte eine Neulackierung in den originalen Farben. Das von Ghia verbaute Leder-Interieur verblieb an Bord und darf seine Patina offen zeigen. Aktuell zeigt der Kilometerzähler weniger als 13.400 belegbare Kilometer an. Ferrari erteilte dem Wagen eine Classiche Zertifizierung, die belegt, dass bis heute der originale Motor, das originale Getriebe und das originale Hinterachsdifferenzial verbaut sind. Nun sucht RM Sotheby’s im Rahmen der Monterey Car Week nach einem neuen Besitzer für dieses Unikat. Als Zuschlagspreis erwartet man dabei einen Bereich zwischen fünf und sieben Millionen US-Dollar.
Bilder: RM Sotheby’s, Darin Schnabel, Carrozzeria Ghia