Volkswagen T1 Blitzer-Bulli

Heutzutage hat man sich speziell in deutschen Großstädten längst an den Anblick von Blitzer-Fahrzeugen am Straßenrand gewöhnt. Speziell an Unfallschwerpunkten sowie vor tendenziell gefährdeten Bereichen wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen sind sie in regelmäßigen Abständen der Schrecken aller Autofahrer, die nicht allzuviel auf die Einhaltung des Tempolimits geben. Üblicherweise handelt es sich um Vans, Transporter oder großräumige Kombis mit steil stehender Heckscheibe, um die Kamera, das Mess-Equipment und den Blitz unterbringen und passend ausrichten zu können. Das heutige Prinzip basiert auf Erfahrungen, die von der Polizei seit 1956 gesammelt wurden. Damals debütierte der erste Prototyp VRG1 von Telefunken auf der Internationalen Polizeiausstellung in Essen. Er wurde im Jahr darauf in einen Volkswagen T1 eingebaut und im Großraum Düsseldorf im Feldversuch eingesetzt. Zuvor hatten Verkehrspolizisten Geschwindigkeitsübertretungen mit per Stoppuhr ermittelten Durchfahrtszeiten über bestimmte Streckenabschnitte ermittelt.

Nach den erfolgreich durchgeführten Versuchen ging die Radartechnik in der Version VRG2 ab 1959 schließlich offiziell in den Dienst der Polizei, die am 15. Februar des selben Jahres zwischen Düsseldorf und Ratingen die erste offizielle Messung durchführte. Andere Dienststellen deutschlandweit waren natürlich ebenfalls interessiert. Je nach Finanzlage von Land und Kommune dauerte es jedoch noch einige Zeit, ehe erste Fahrzeuge angeschafft oder umgerüstet wurden. In Niedersachsen baute man 1961 einen bereits neun Jahre alten Volkswagen T1 der Polizei Hannover zum Blitzer-Bulli um. Das blaue Fahrzeug erhielt an der hinteren linken Ecke eine Verschlussklappe, die das Blitzgerät verbarg, während die restliche Messtechnik im Innenraum verbaut war, wo die Beamten auch die Auswertung an einem kleinen Tischchen vornehmen konnten. „Das war technisch ziemlich aufwändig, alles in den Bulli unterzubringen und zu verkabeln. Das Blitzgerät im Heck tarnten wir durch eine Klappe in Wagenfarbe“, erzählt Polizeihauptmeister a.D. Dieter Dell (79), der damals für den Einbau verantwortlich war.

Zwischen 1961 und 1964 diente dieser Volkswagen T1 als Ausbildungsfahrzeug für Polizisten aus ganz Niedersachsen. Einer von ihnen war Polizeihauptwachtmeister a.D. Heinz Scholze (89), der am ‚2. Radarlehrgang‘ im Jahr 1961 teilnahm. Beim Wiedersehen mit dem Blitzer-Bulli, 58 Jahre später, erinnerte er sich: „Das war absolutes Neuland – für die Verkehrsteilnehmer und für uns. Wir hatten mit dieser neuen Technik ja überhaupt keine Erfahrung. Deshalb wurden wir mehrere Wochen geschult.“ Nach den Schulungen wurde der T1 abgemeldet und an einen Privatbesitzer verkauft. Er wanderte durch verschiedene Garagen und Scheunen in und um Hannover, bevor ein Kfz-Meister ihn in seine Garage im Stadtteil Badenstedt stellte. Vor Witterung geschützt nagte trotzdem der Zahn der Zeit am Blech, während eine einst geplante Restaurierung durch andere Projekte nie ausgeführt wurde.

Durch Zufall wurden Mitarbeiter von Volkswagen Nutzfahrzeuge Oldtimer (VWNO) aus dem benachbarten Stadtteil Hannover Limmer auf den Wagen aufmerksam und konnten ihn schließlich für die hauseigene Fahrzeugsammlung erwerben. Dort angekommen erhielt der Blitzer-Bulli einige fehlende Anbau- und Einrichtungsteile wie die passende Radaranlage, die von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig bereitgestellt wurde. Trotz mindestens 54 Jahren Standzeit sprang der Motor nach einem gründlichen Ölwechsel und dem Einbau einer neuen Starterbatterie sowie neuer Zündkerzen auf Anhieb an. Zur Präsentation dieses einmaligen Fahrzeugs lud VW die beiden ehemaligen Polizeibeamten ein.

„Gebt mir 15 Minuten. Dann bin ich wieder voll drin! Dann kann es von mir aus wieder losgehen“, scherzt Polizist Scholze, nachdem er sich einen authentischen blauen Mantel übergezogen und auf dem Holzstuhl hinter der Bedieneinheit des Telefunken VRG2 Platz genommen hatte. Dann guckt er sich um: „Der Bulli war mein zweites Zuhause. Hier habe ich über Stunden ganz allein auf dem Holzstuhl am Radarmessgerät gesessen und aufgepasst, ob mir ein Raser ins Netz geht. Die waren dann völlig baff, wenn es aus dem Bulli-Heck plötzlich blitzte. Das war ja für alle völliges Neuland – für uns und für die Autofahrer.“ Die Hannoveraner Polizei setzt momentan 159 Volkswagen Transporter vom T4 bis zum aktuellen T6 ein. Ex-Polizist Scholze kann sich jedoch mit der heutigen Zeit nicht so recht arrangieren: „Damals waren wir noch Respektspersonen. Da grüßte uns jeder, wenn wir im Streifenwagen vorbeifuhren. Heute wirst du als Ordnungshüter nicht mehr so geachtet. Und dann die ganze neue Technik. Nee, nee, das is‘ dann wohl doch nix mehr für mich.“ Im Weggehen drehte er sich noch einmal um: „Mach’s gut, Bulli.“

Interessanterweise funktionieren heutige Radarmessgeräte immer noch nach dem gleichen Prinzip, wie damals das VRG2. Noch spannenderes weiß Dr. Frank Märtens, Leiter des Fachbereiches Geschwindigkeit an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, zu berichten: „Diese Messanlage VRG2 ist wie ein alter Rotwein. Sie ist aus unerklärlichen Gründen mit den Jahren sogar noch besser geworden! Das haben aktuelle Vergleichstests eindeutig ergeben. Sie misst auch heute noch sehr genau, ihre Fehlerquote hat eine maximale Abweichung von drei km/h, liegt damit im absoluten Toleranzbereich.“

Autor: Matthias Kierse – Secret Classics

Bilder: Volkswagen Nutzfahrzeuge, Heinz Scholze, Polizeimuseum Niedersachsen, PTB BS